Haveltour – Auf der unteren Havel von Berlin-Wannsee nach Havelberg
30.05. - 05.06.2023 - 7-tägige Kajaktour auf der unteren Havel von Berlin Wannsee bis HavelbergLänge: 162 km
Nach 30 Jahren ununterbrochenen Arbeitens habe ich es in diesem Jahr tatsächlich geschafft, ein kurzes, 3-monatiges Sabbatical zu organisieren, hallelujah. Arbeit ist ein langer, meist träger Fluß, eher noch ein Kanal mit beidseitig betonierten Ufern, an denen immerzu Schilder stehen mit der Aufschrift: Aussteigen verboten! Zeit also, mal auf einem anderen Fluß zu paddeln.
Als erstes Projekt habe ich mir vorgenommen, die untere Havel von Berlin bis Havelberg kurz vor der Mündung in die Elbe zu befahren und damit meine kleinen Touren auf der oberen Havel im letzten Jahr zu komplettieren. Länger als 3 Tage war ich bisher tatsächlich nie am Stück unterwegs – das ist durchaus planerisches Neuland für mich. Ich habe mir die ca. 160 Kilometer lange Strecke in 7 handliche Teilstrecken von jeweils ca. 25 Kilometer – manchmal auch kürzer – eingeteilt. So ist genug Zeit für Pausen und Fotos und ich kann meine Kondition langsam aufbauen. Ich werde mit dem Seayak paddeln, das genug Stauraum bietet, mit der Steueranlage auch bei Seitenwind gut zu manövrieren ist und mit dem hohen Bug auch bei Windwellen oder Motorboot-Schwell wunderbar funktioniert.
Tag 1: Wannsee – Werder (30.05.23, 25km)
Kursmarken:
- Haus der Wannseekonferenz: 1,6 km
- Schloss Pfaueninsel: 6 km
- Glienicker Brücke: 9 km
- Potsdam Alte Fahrt: 12 km
- Einfahrt Templiner See: 16 km
- Fähre Caputh: 20 km
- Campingplatz: 25 km
Es ist ein angenehm temperierter sonniger Tag mit meist leichtem Rückenwind aus Südwest. Das Pfingstwochenende ist grade zu Ende. In den nächsten Tagen soll das Wetter stabil bleiben – der Wind soll etwas nach Nordost drehen, das sind wirklich gute Bedingungen für eine mehrtägige Havel-Tour. Ich fahre zum Wannsee, stelle den Wagen kostenfrei an der Wannseebrücke ab und bugsiere das Kajak über die heftig befahrene Königstraße direkt zum terassenförmigen Kai nahe des Fähranlegers Wannsee. Der See öffnet sich blau, weit und freundlich, Ruderer rauschen vorbei. Gleich zu Anfang passiere ich links das Haus der Wannseekonferenz und rechts erscheint am östlichen Ufer das Strandbad Wannsee. Zwischen kalt geplantem Genozid am jüdischen und unbeschwertem Badevergnügen für das deutsche Volk liegen nur ein Kilometer Wasserlinie, das ist schwer verdaulich.
Die Fahrt führt weiter zur Pfaueninsel, die ich am nördlichen Ufer passiere – die schöne Durchfahrt beim Düppeler Forst, wo auch die Fähre verkehrt, kenne ich schon von einer früheren Tour. Nur wenige Gebäude der Parklandschaft der Insel sind vom Wasser aus einsehbar – zu dicht ist das Laub der Bäume, das noch in kräftig-grünen Maifarben strotzt. Prominent am nördlichen Ufer und gut sichbar ist die Alte Meierei gelegen.
Das Schloß Pfaueninsel, das ohnehin eher wie eine herrschaftliche Theaterkulisse wirkt, wird von einem Baugerüst verdeckt. Gut einsehbar wiederum ist die Sacrower Heilandskirche am westlichen Havelufer.
Ich fiebere schon der Glienicker Brücke entgegen und dem genialen Durchblick auf den Schlosspark Babelsberg. Wie immer hält der Blick den Erwartungen stand.
Am Schloss Babelsberg vorbei geht es nun über den tiefen See hinein nach Potsdam Stadt.
Nur wenige Boote sind unterwegs – die Ruhe nach dem Pfingstwochenende hält an. Ich zweige rechts in die die für motorlose Boote obligatorische „Alte Fahrt“ ab.
Diese führt über ein paar hundert Meter zwischen Museum Barberini und der Liebesinsel vorbei bis zum Hotel Mercure am rechten Ufer, dem 1967 von Walter Ulricht als „sozialistische Stadtkrone“ und Teil der Interhotel-Kette in Auftrag gegebenen DDR-Luxushotel. Es war damals vermutlich vollgestopft mit Stasi-Elektronik, um die westliche Gästeprominenz abzuhören. Auf jeden Fall hat es ikonischen Status und wird daher wohl auch nicht abgerissen, obwohl es aus heutiger Sicht auch nur ein Plattenbau ist.
Dahinter zeigt sich von der Havel aus eher der Hinterhof von Potsdam. Weitere hässliche Plattenbau-Wohntürme erscheinen hier und da an den Ufern. Bis sich schliesslich und endlich der Templiner See weit nach Süden öffnet, mittig unterbrochen nur von einer Eisenbahnbrücke.
Auf dem See lege ich erstmal eine Dümpelpause ein. Ich habe mir vorgenommen, jeweils nach etwa 2/3 der geplanten Tagesstrecke mindestens eine halbe Stunde zu pausieren. Dann bin ich gewissermaßen über den Berg, kann neue Kraft schöpfen und das Etappenende wird schon greifbar. Bei 25 Kilometern ist das gut zu machen. Bei mehr Kilometern sollte es noch eine weitere Pause geben.
Das massive historische Kulturaufgebot von Wannsee und Potsdam geht jetzt zu Ende. Die Havel fliesst zwar weiter durch historisches Gelände und ist ja auch weit weniger Naturfluß, als man bei all der Wasserfülle und Vegetationspracht denkt. Dennoch wandelt sich meine Wahrnehmung und ich widme meine Aufmerksamkeit Wasser, Wolken, Planzen- und Tierwelt.
Die Weiterfahrt führt über den Einstein-Wohnort Caputh mit kleiner Wartepause an der Seilfähre und dann über den kanalartigen Lauf der Caputher Gemünde in den sich weit nach Südwesten erstreckenden Schwielowsee.
Hier gibt es aufbrisenden vorlichen Wind aus Nordwest. Bei stärkerem Südwestwind und 5,5 Kilometer Anlaufstrecke ist auf dem Schwielowsee sicher mit einer unschönen Welle zu rechnen – so wird es nur etwas anstrengender.
Unter der Straßenbrücke, über die die B1 führt, fahre ich wieder in die Havel ein, die hier ebenfalls seenartig verbreitert ist. Ganz im Norden wird schon die schöne Insel Werder mit der charakteristischen neugotischen Heilandskirche sichtbar.
Nach etwas mehr als einem Kilometer kann man links in den Glindower See zum Campingplatz „Blütencamping Riegelspitze“ abbiegen.
Linkerhand führt ein etwas versteckter kleiner Stichkanal zu einem Kajaksteg direkt bei der Rezeption. Ich schlage mein Zelt allein auf einer winzigen Zeltwiese zwischen zumeist noch verwaisten Miet-Bungalows auf.
Die Saison ist wohl noch im Auftakt und wie überall auf den hiesigen Campingplätzen wird sichtbar, dass die Wohnmobile gnadenlos auf dem Vormarsch sind, von den üblichen Wohnwagen-Dauercampern einmal abgesehen. Zelten scheint ein Auslaufmodell zu sein, das allenfalls noch im Hochsommer als Erlebnispädagogik für Schulklassen instrumentalisiert wird. Da die üblichen Wohnmobile zwischen 50-100.000 EUR kosten und ein Stellplatz schon fast so teuer ist wie ein günstiges Hotelzimmer ist, haben sich hier auch andere soziale Verhältnisse eingestellt.
Ich kaufe mir noch Proviant am nahegelegenen Einkaufspark und verbringe den Abend mit einem Viertele Rotwein am kleinen Badestrand am Westufer des weitläufigen Geländes.
Tag 2: Werder – Ketzin (16 km)
Kursmarken:
- Insel Werder: 2 km
- Brücke Grosser Zernsee: 4 km
- Brücke A10 / kl. Zernsee: 7 km
- Göttinsee: 14 km
- Campingplatz Ketzin: 16 km
Um neun Uhr morgens sitze ich wieder im Kajak, es ist sonnig, 20 Grad. Ein leichter Wind aus Ost/Nordost weht. Da es zumindest laut GoogleMaps zwischen Ketzin und Brandenburg kaum Übernachtungsmöglichkeiten gibt, habe ich mich entschlossen, nur eine kurze Tour bis Ketzin zu unternehmen und dann am Folgetag bis Brandenburg zu paddeln.
Die Insel Werder mit der charakteristischen Heilig-Geist-Kirche des Architekten Friedrich August Stüler liegt gleich vorab und ich fahre an der rechten, östlichen Uferseite vorbei.
An einer links hinter der Insel gelegenen Marina steigt grade ein Pärchen in einen Kanadier ein. Tatsächlich werde ich die beiden noch einmal in Havelberg wiedersehen. Auch 2 Solopaddler kommen mir auf den weiteren Kilometern entgegen – viel mehr werden es aber auf der ganzen Tour nicht werden. Einer der Paddler kommt aus Ketzin und ist auf dem Weg nach Werder.
Unter einer Brücke geht es zunächst in den großen Zernsee, der etwa 3 km lang ist und sich am nördlich gelegenen Naturschutzgebiet Wolfsbruch gabelt. Ich fahre westlich, also links, am Wolfsbruch vorbei – östlich zweigt die Wublitz ab, die zum Sacrow-Paretzer Kanal führt.
Unter einer weiteren Brücke, über die die Autobahn A10 führt, geht es wieder in die Havel, die zunächst in nordwestlicher Richtung verläuft. Die Brücke ist enorm stark befahren von endlosen LKW-Karawanen. Ich habe das Gefühl, auf meiner Tour einer anderen Logik zu folgen – Mäandernde Fluss-Logik unterkreuzt geradlinige Warenstrom-Logistik. Mal sehen, wohin das führt. Es sind recht viele Motoryachten unterwegs und jenseits des markierten Fahrwassers wird es teilweise sehr flach. Ich nutze die Steueranlage, was das Kurshalten beim Fotografieren extrem vereinfacht. Leider hängen sich die Algen immer wieder ans Ruderblatt.
Am Räuberberg Phöben (weit und breit kein Berg hier zu sehen) lege ich eine kleine Pause am Havel-Westufer ein. Hier verläuft zwar ein viel befahrener Radweg, aber es ist trotzdem sehr idyllisch.
Kaum einsehbar liegt rechts der Göttinsee hinter einer langgezogenen Böschung – es gibt aber eine kleine Durchfahrt für nichtmotorisierte Boote und ich schaue mich kurz auf dem stillen See um.
Bei der Rückfahrt gibt es einen ordentlichen Sog aus dem See in die Havel und ich stoße beinahe mit dem Kanadierpärchen aus Werder zusammen, das mich während meiner Rast überholt hatte und hier festgemacht hat. Hinter dem Göttinsee zweigt rechts der Sacrow-Paretzer Kanal ab, über den man zurück nach Berlin gelangen könnte. Nordöstlich könnte man in den Havelkanal einfahren, der bis Berlin Henningsdorf führt.
Nach Ketzin sind es nun nur noch wenige Kilometer. Bei Ketzin fällt eine hölzerne Anlage auf, die in den Fluss ragt: die Radioaktivitäts- und Durchflussmessanlage Ketzin. Sie ist Teil eines bundesweiten Netzes, das im Zuge der Atomversuche der 50er Jahre aufgebaut und nach der Tschernobyl-Katastrophe noch einmal modernisiert wurde. 12 weitere Messstellen sind nach der Wiedervereinigung dazugekommen.
Ich schaue mich nach meiner Übernachtungsmöglichkeit um und lande versehentlich am „falschen“ Zeltplatz, einer kleinen Marina mit Werft, die auch Stellplätze vermietet und eine leider schattenlose Zeltwiese auf dem Gelände bietet. Ich bin hier ganz allein; es gibt einen schönen Havelblick. Der größere Campingplatz, den ich eigentlich ansteuern wollte, liegt ein paar Meter weiter havelabwärts. Der nächste Supermarkt ist 2 Kilometer entfernt und ich unternehme noch einen kurzen Gang durch die Ketziner-Altstadt. Die Zeltwiese grenzt mit einem Zaun westlich an ein paar Datschengrundstücke. Um zumindest der Abendsonne zu entgehen, habe ich mein Zelt direkt am Zaun aufgebaut. So werde ich leider Zaungast eines abendlangen Palavers der Datschenbewohner und ihrer Gäste über Gott und die Welt direkt hinter dem Zaun, das nur mit Oropax leidlich eingedämmt werden kann.
Tag 3: Ketzin – Brandenburg (24 km)
Kursmarken:
- Einfahrt Trebelsee: 3,4 km
- Einfahrt Krumme Havel: 16 km
- Dominsel: 22 km
- Stadtschleuse / Sportbootschleuse: 23 km
- Campingplatz Wassersportzentrum Alte Feuerwache 24 km
Wieder starte ich um neun Uhr morgens. Es gibt Westwind Stärke 3 und ist bewölkt. Ich befürchte lästigen Gegenwind auf der ganzen Fahrt aber es ist halb so wild. Vorsichtshalber habe ich die Spritzdecke aufgezogen, da sich der Trebelsee doch über 3 km nach Westen erstreckt und hier etwas Schwell entstehen könnte.
Dort angekommen halte ich mich rechts näher am Ufer. Es ist ein grosses Wasserskigebiet ausgewiesen und auch eine Kitezone, aber niemand ist da. Das ganze östliche Ufer ist weitgehend flach mit veralgtem Hornkrautbewuchs bis dicht unter die Wasseroberfläche. Links am Westufer imponiert leider eine grosse Schuttdeponie, die den ganzen See dominiert. Viel Berufsschifffahrt ist dort in der Fahrrinne unterwegs, u.a. große Schubverbände weit entfernt von mir. Auch viele Motoryachten fahren hier durch.
Die Havel ist breit hier, sie fließt wahrgenommen mehr in die Breite als in die Länge. Von der Landschaft her ist dies im Rückblick fast eine der schönsten Abschnitte der Tour. Große Weiden stehen an den Ufern mit silbrig fiedrigen Blättern.
An einem kleineren See und dem zuführenden Havelabschnitt dazu fährt leider eine aggressive weisse Plastik-Motoryacht mit Namen „Elise“ auf. Sie ist mit Vollgas unterwegs und wirft riesige Wellen klatschend an die Uferböschung. Dann wendet sie, rast die gleiche Strecke zurück, dümpelt vor sich hin, rast unkalkulierbar plötzlich wieder los. Eine Mischung aus weissem Hai und dem irren Lastwagen aus Spielbergs Film „Duell“, vielleicht ist auch Kapitän Ahab an Bord. Letztlich tut sie mir nichts, hinterlässt aber ein ungutes Gefühl, das erst nach einer Weile wieder verebbt.
Später und wie zum Ausgleich rattert der unterdimensionierte 5-PS Aussenborder eines Hausboot-Flosses stundenlang vor mir her. Langsam kann auch nerven. Kurz hinter dem eher abweisenden Dauercamper-Platz Camping Eden, den ich mir für den Notfall bei starkem Gegenwind aufgehoben hatte, will ich Pause machen und prompt pausiert auch das ratternde Hausboot. Ich überhole es und finde einen kleinen schattigen Slipstrand. Obwohl ich das Kajak hoch auf den Sand gezogen habe, wird es plötzlich in einem Moment der Unaufmerksamkeit von Welle und Sog eines vorbeifahrenden Dampfers in die Havel gezogen. Grade noch kann ich es an der schlängelnden Leine zurückhalten.
Vor Brandenburg angekommen fahre ich links in den Brandenburger Stadtkanal ein, um den Brandenburger Dom auf der Dominsel in Augenschein zu nehmen und das Stadtbild vom Wasser aus zu betrachten.
Es geht schliesslich durch die Brandenburger Stadtschleuse, wo mich ein etwas muffliger und einsilbiger Schleusenwärter durchschleust, zurück zur Brandenburger Havel.
Gleich links in einem Kanal soll hier das Wassersportzentrum Alte Feuerwache liegen. Aber wo genau? Erst nach einem Anruf werde ich zu einem unscheinbaren Anlegesteg gelotst. Der Platz ist ein weitläufiges und undefiniertes Etwas aus Abstellfläche, Bootsservice, Zeltmöglichkeiten und kleinen Mietzimmern. Schön ist er nicht. Bezahlen kann man nur online. Aber gut. Es ist letztlich alles da und funktioniert: Toilette, Duschen, sogar eine Küche gibt es. Alles kann per Türcode geöffnet werden. Und es ist direkt in der Stadt. Weiter als bis zum nächsten Supermarkt schaffe ich es aber nicht mehr. Die nächsten 3 Nächte werde ich voraussichtlich auf Biwakplätzen verbringen, ohne Einkaufsmöglichkeit.
Tag 4: Brandenburg – Bahnitz (26 km)
Kursmarken:
- Plauer See: 4,4 km
- Biwakplatz Bahnitz: 23 km
Morgens um 7 Uhr ist es ungemütliche 11 Grad kalt. 2 BFT Wind aus Nordwest sind angesagt. Im Tagesverlauf soll der Wind auf 3 BFT Nordost drehen.
Nach kurzer Aufheiterung auf der Brandenburger Havel ziehen sich die Wolken schon wieder zu.
Nach der Durchfahrt durch die Brandenburger Stadthavel gelange ich nach etwa 5 km zum Leuchtturm des Breiting-Sees. Breiting- und Plauer See liegen grau in bleiernem Glast.
Vorsichtshalber habe ich die Spritzdecke aufgezogen, um vor Regen gewappnet zu sein. Ein Jollenkreuzer zieht vor mir vorüber, später in einer Flaute hole ich ihn wieder ein. Die Geräusche eines großen Schrottwerkes im Osten ziehen über die Seen. Auch bei Plauen gegenüber dem Campingplatz dominiert eine Industriekulisse. Aber auch das alte unrenovierte Plauener Schloss, wo die Havel rechterhand weiterführt.
Nun geht es gegen den immer wieder böig aufbrisenden Wind nach Nord. Vom vorhergesagten Drehen des Windes nach Ost keine Rede. Aber die Sonne kommt irgendwann wieder durch. Ich pausiere nach etwa 16 km.
Bei Pritzerbe macht die Havel einen Knick nach Nordwest und das Wetter ist jetzt strahlend schön und lässt das Havelwasser glitzern.
Vor der Schleuse Bahnitz, die nach 2,8 km folgt, erhöhe ich die Schlagzahl, als mich eine Motoryacht überholt. Ich befürchte, sonst nicht mit in die Schleusenkammer zu kommen. Doch die Schleuse zeigt noch rot, als ich ankomme. Rechts findet sich ein Hinweis, dass hier eine alte Kahnschleuse für kleinere Boote (< 12×2.70m) in Selbstbedienung genutzt werden kann. Neugierig fahre ich hin. Doch es gibt hier keinen grünen Hebel, an dem man einfach ziehen könnte wie an der oberen Havel. Ich steige aus und sehe mir das an. Man kann hier tatsächlich selber Schleusenwärter spielen, denn die Schleuse muss mit 2 Kurbelrädern von Hand bedient werden. Das macht allein im Kajak natürlich keinen Sinn. Man müsste zu zweit sein. Einer bedient dann oben die Schleusenräder und einer fährt rein und wieder raus. Ich trage daher an einem kleinen Sandslip um.
Nach einem großen Havelbogen komme ich kurz vor dem Ort Bahnitz heraus und erreiche am späteren Nachmittag den dortigen Biwakplatz.
Am Strand ist eine lärmende Kindergeburtstagsparty in Gang. Die Biwakwiese ist für ein Beachvolleyballturnier vorbereitet, aber noch bin ich ganz allein dort.
Das kleine Imbiss-Café, das nur am Wochenende geöffnet hat, zeigt sich als lebendiger Treffpunkt für die Dorfbewohner, die in lebhaftem Austausch miteinander sind. Dort treffe ich auch den Hafenmeister, der die Bezahlung (5 € für die Übernachtung) entgegennimmt. Für die hygienischen Bedürfnisse gibt es ein geräumiges Münzklo und auf Nachfrage wohl auch eine Duschmöglichkeit. Die Currywurst des Imbisses ist so lala, aber die Flasche Becks mit 1,50 € unschlagbar günstig. Ich mache noch einen Spaziergang durch das ansonsten verschlafene Dorf, in dem sich auch ein paar Künstler niedergelassen haben.
Kurz vor 22 Uhr dreht noch mal Stumpftechno am Strand auf. Dann unvermittelt, sich entfernend, Fragmente des Songs „Auf gute Freunde“ von den Böhsen Onkelz. Eine Brandenburger Musikmischung, der man hier wohl nicht entgehen kann. Punkt 22 Uhr ist tatsächlich Zapfenstreich und nur noch der Wind weht in den Bäumen.
Tag 5: Bahnitz – Göttlin (23 km)
Kursmarken:
- Premnitz: 6,5 km
- Rathenow: 19 km
- Biwakplatz Göttlin: 23 km
Morgens um 7 Uhr ist es wieder kühl, wieder grade mal 7 Grad. Aber die Sonne kommt. Ich nehme erstmal ein Havelbad zur Abhärtung. Auf dem Biwakplatz werden letzte Vorkehrungen für das Beachvolleyballturnier getroffen. Ein ratternder Rasenmähertraktor fährt auf dem Platz herum. Als dann die Dorfjugend eintrifft, die hier gegeneinander antritt, dröhnt schon wieder Technobums aus den Boxen. Ich bin weg. Die Havel liegt wieder strahlend schön vor mir. Weiden, Erlen, Wiesen, nun schon nicht mehr ganz so Maiengrün. Es tut gut. Der Fluss ist hier schmaler, vielleicht 30 Meter breit. Viele kleine Nebenarme zweigen ab, in denen oft Charter- Hausboote liegen. Etwas mehr Kajaks und Kanadier als bislang sind unterwegs.
Leider sind hier aber auch wieder einige rasende Motorboote mit großer Heckwelle unterwegs. Wenn ich mich nicht täusche, wären 12 km/h erlaubt. Die Raser sind mit ca. 40 km/h und mehr unterwegs. Ich gehe dazu über, etwas stärker ins Fahrwasser zu fahren und die Kamera zu zücken. Tatsächlich hilft das in einigen Fällen. Ein testosterongesteuerter Raser mit Freundin duckt sich tatsächlich frech weg und hält das Gas. Dem Seayak machen die Wellen nicht viel aus. Mit einem offenen Kanadier sähe das schon anders aus. Ich bin nicht der Havel-Blockwart, aber die Wasserschutzpolizei macht sich aber anscheinend rar auf diesem Havelabschnitt. Und wenn man mehr Raser sieht als Graureiher, stimmt auch was mit dem Naturschutz nicht.
In Premnitz gehe ich einkaufen, denn in Göttlin gibt es keinen Laden. Am Premnitzer Hafen findet sich leider keine Anlegemöglichkeit für Kanuten. Der einzig halbwegs akzeptable Steg wird von einem Hausboot belegt. An den Uferplätzen sitzen meist Angler. Aber eine Stelle finde ich doch. Wieder verproviantiert im 250 Meter entfernten Supermarkt, mache ich mich auf die längere Strecke Richtung Rathenow auf.
Auf der Weiterfahrt ist alles fein und schön hier: Natur, kreisende Falken, ab und zu platscht ein Fisch, Schwäne eskortieren ihre Jungen ans andere Ufer. Hier und da deutet ein Kirchturm am Horizont auf spärliche Besiedlung. Leichter Rückenwind erleichtert das Vorankommen. Vor Rathenow will ich einmal pinkeln und halte an einem kleinen Rastplatz. Just als ich angelandet bin, hält ein Radfahrer, der aber nicht lange bleibt, vielleicht hatte er ähnlich Motive… Stattdessen kommt nun die Bewohnerin einer kleinen Siedlung heranspaziert. Mit ihrer Schildkröte, die sie auf die Wiese setzt. Langsam, sehr langsam, kriecht die Schildkröte über die Wiese. Ich sitze auf einer Bank und warte geduldig. Die Schildkröte kriecht ausdauernd. Die Alte antwortet wortkarg auf meine höfliche Frage nach Name und Alter der Schildkröte. Sie heisst Schildi und ist 25 Jahre alt, also noch sehr jung. Ich habe meinen Lunch lange genommen, die Blase zwickt. Schließlich gebe ich auf und fahre erstmal weiter.
In Rathenow gibt es 2 Schleusen. Die eine führt links an der Stadt vorbei, zur anderen führt zur Rathenower Havel. Zwei Kanus haben mich überholt, sie fahren rechts und ich entscheide mich ebenfalls für den Umweg durch die Stadt.
Etwa 4 Kilometer nördlich von Rathenow liegt der Biwakplatz Göttlin am linken Havelufer. Ähnlich wie in Bahnitz geht es laut und trubelig zu. Klar, es ist Wochenende. Ein Jetskifahrer zieht mit brüllendem Motor seine Kreise. Eine Jugendgruppe hat Ihre Zelte aufgebaut. Ich finde aber dennoch eine schöne kleine Stelle direkt am Strand. Außer einem Grillplatz und Plumpsklo gibt es hier nichts. Ich will mich noch korrekt anmelden, aber es geht niemand ans Telefon. Ok, 5 EUR gespart.
Tag 6: Göttlin – Strodehne (25 km)
Kursmarken:
- Hohennauener Wasserstr.: 4,5 km
- Biwakplatz Grütz: 7,5 km
- Schleuse Grütz: 9,6 km
- Molkenberg / Einfahrt Gülper Havel: 15 km
- Schleuse Garz: 22 km
- WWR Strohdene: 25 km
Um kurz vor 10 Uhr starte ich in Göttlin, es ist sonnig, 20 Grad und ein schwacher Wind weht aus Nordwest.
Gleich hinter dem Biwakplatz beginnt das Gelände eines Truppenübungsplatzes. Schilder und einige Betonbefestigungen am Ufer weisen darauf hin.
Die Havel-Landschaft wird karger und herber. Die Weiden am Ufer stehen vereinzelter und sind teilweise verdorrt.
Viele kleine Strände zeigen sich am rechten oder linken Ufer. Nach etwa 7,5 km gibt es am linken Ufer bei der Ortschaft Grütz einen weiteren Biwakplatz.
Ich gelange nach knapp 10 Kilometern an die Riesenschleuse Grütz. Mit einer Kammerlänge von 215 Metern und schrägstehenden Kammerwänden wirkt sie in dieser Landschaft irgendwie fehl am Platz und etwas düster.
Umso absurder wird es, weil ich mit einer kleinen Motorjacht ganz allein in der Schleuse bin und diese Riesenmenge Wasser für mein kleines Kajak gepumpt werden muss. Die Schleusen Bahnitz, Grütz und Garz wurden Anfang des 20 Jhdts. identisch angelegt und haben alle diese lange Schleusenkammer und ein Nadelwehr. Neben ihrer Transport-Funktion für die gewerbliche Schifffahrt wurde mit den Schleusen auch der Wasserstand der Havel und der umliegenden Feuchtgebiete geregelt. Alles, was hier nach ursprünglicher Natur aussieht, wird also bereits technisch geregelt.
5,6 km hinter der Schleuse liegt der Ort Molkenberg mit Marina und Storchennest. Dort gibt es nach Anmeldung auch eine Zeltmöglichkeit für Kanuten. Ich koche mir eine Suppe. Ein älteres, aber offensichtlich schwerverliebtes Motorradpärchen setzt sich mit an den schattigen Unterstand und turtelt etwas nervig miteinander. Nun ja – gegen Liebe ist letztlich wenig zu sagen.
Bei Molkenberg mündet im Übrigen die Gülper Havel, die auch befahren werden kann. Die Gegend hier gehört wohl zu den Landstrichen mit der geringsten Lichtverschmutzung in Deutschlande. D.h.: bei klarem Wetter ist hier der Sternenhimmel unverblendet zu geniessen. Die Website des Sternenparks Westhavelland bietet umfassende Informationen hierzu.
Als ich allein an die Schleuse Garz gelange, deren Tore noch geschlossen sind, will ich es besser machen als in Grütz. Warum nicht einfach umtragen am Schwimmsteg und nicht Hunderttausende Liter Wasser unnötig und kostspielig hin- und herpumpen? Das Manövrieren über einen schmalen steilen Steg ans Ufer ist zwar etwas mühsam und ich wundere mich auch über den schlechten Weg hinter der Schleuse. Erst als ich dann nach 250 Metern am hinteren Schleusengelände ankomme, merke ich, dass es ein Fehler war, so umweltfreundlich zu denken. Das Gelände ist von einem Zaun umschlossen, das Tor dazu abgeschlossen. Den hinteren Schwimmsteg kann man gar nicht erreichen. Ich sehe 2 Motorboote auf die Schleuse zufahren und befürchte, dass der Schleusenwart erst die Schleusung für diese Bergfahrer vorbereiten wird – mit ewiger Wartezeit für mich. Hastig rufe ich die Schleusenzentrale an und berichte mein Malheur. Die Schleusen werden über Video gemanaged, vor Ort ist hier niemand. Der Schleusenwart hatte mich gar nicht gesehen, verspricht aber, zu warten, bis ich wieder vor der Schleuse bin. Schweissgebadet bugsiere ich alles wieder zurück, fahre in die Schleuse und lasse die Hunderttausend Liter Wasser fliessen.
Nach weiteren 3,5 km erreiche ich schliesslich mein Tagesziel, den Wasserwander-Rastplatz Strodehne, zu dem man über einen Abzweig rechts der Havel gelangt.
Auf der leider schattenlosen Zeltwiese treffe ich Uwe, der eine Art Kanuvagabund ist. Mit seinem Puch-Segelkanu treibt er sich seit einigen Jahren jeweils 6 Monate im Jahr auf Havel, Elbe und Kanälen herum. Die Ärzte hatten ihn nach erheblichen gesundheitlichen Problemen und unzähligen Operationen schon aufgegeben – nach seiner Frühverrentung hat er die Schulmedizin hinter sich gelassen und das Kajakfahren als Lebensretter entdeckt und es scheint zu funktionieren.
Ich wandere in den kleinen Ort und bestelle Bratkartoffeln im Gasthof Schwarzer Adler. Einheimische haben den einzigen Tisch im Freien besetzt und trinken ihr Feierabendbier, so dass ich den Gastraum wähle. An der gegenüberliegenden Wand hängen Plakate, die von einem einstigen Aufenthalt des brandenburgischen Parade-Literaten Theodor Fontane in Strodehne künden.
Als studierter Germanist werde ich neugierig. Der Plakattext ist atmosphärisch und wirklich gut gelungen. Wie schön, dass ich durch einen Zufall in diesem abgelegenen Havelkaff meine Bratkartoffeln in virtueller Anwesenheit von Fontane verspeisen kann. Als ich Tage später nach einem Strodehne-Text von Fontane in dessen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ suche und nichts finde, werde ich stutzig. Und stelle fest: Fontane ist nie in Strodehne gewesen. Anscheinend wanderte er ohnehin selten, sondern liess sich als Vielschreiber und Auftragsliterat per Kutsche durch die Havel-Dörfer rollen. Den in Strodehne ansässigen Schriftsteller Walter Aue hat das geärgert – er hat eine Ausstellung organisiert und Fontane nach Strodehne gebeamt. Ein toller und glaubwürdiger Hoax, auf den ich hineingefallen bin.
Zurück im Zelt werde ich von einem stundenlangen abendlichen Krötenkonzert, das sich mit merkwürdigen romantisch wirren Klavierklängen mischt, die von einer kleinen Motoryacht an der Marina stammen, in den Schlaf gewiegt.
Tag 7: Strodehne – Havelberg (17 km)
Um 9:30 h steige ich ins Kajak und verabschiede mich von Uwe, der mir noch Tips für Havelberg gegeben hat. Wie in den letzten Tagen ist es sonnig, 20 Grad und es weht nur ein laues Lüftchen von hinten.
Die Landschaft wird immer flacher und karger, viele sandige Stellen, kleine Nebenläufe, viel Totholz. Bis auf wenige Hausboote ist kaum Bootsverkehr unterwegs.
Einmal fährt ein kleinerer Schubverband mit Krangerät vorbei, als ich pausiere. Die Vögel scheinen sich im flachen Hinterland wohl zu fühlen. Viele Schwäne, sogar Möven, die, da die Havel hier auch wieder breiter läuft, zusammen mit sandigen Stellen einen Hauch von Meerlandschaft suggerieren. Die maritime Atmosphäre kommt von den weitläufigen Havel-Feuchtgebieten, den Luchen, die die Landschaft hier durchziehen, sowie von den Resten des ursprünglichen Havel-Binnendeltas vor der Elbeinmündung.
In Havelberg fahre ich noch bis zur Schleuse, aber nicht mehr hindurch. Die ganze Zeit schon locken mich Rückenwind und sogar eine Art Strömung, weiter hinaus bis zur Elbe zu fahren. Die Schleuse steht offen – Havel- und Elbwasserstand sind zur Zeit ausgeglichen. Aber die Lichter zeigen rot. Man muss sich vorher telefonisch anmelden. Und nach der Schleuse sind es immer noch knapp 1,5 km bis zur Elbe. Verlockend, aber ich merke, dass die Tour für mich doch zu einem Abschluss kommt. Weder Kräfte noch Proviant reichen. Ursprünglich wollte ich von Havelberg aus noch eine Hin- und Rückfahrt bis zur „wirklichen“ Havel-Elbmündung machen, das wären noch einmal 20 Kilometer als kleine Tagestour. Uwe hatte allerdings gesagt, dass dieses Havelstück nicht besonders interessant sei – und leider kommt man hier ja auch nicht in die Elbe hinein – da die Durchfahrt durch ein Wehr versperrt ist. Gestern hatte ich sogar noch überlegt, über die Schleuse weiter auf der Elbe bis Wittenberge zu paddeln und endlich einmal den Schub der Strömung zu geniessen. Das wären 35 km extra gewesen. Und die Bahnverbindung von Wittenberge nach Berlin ist hervorragend. Aber nein – für mich ist hier in Havelberg ein guter Endpunkt erreicht. Die Elbe muss warten.
Ein Motorboot kommt durch die Schleuse entgegen. Der Bootsbesitzer grüßt. Wir hätten uns doch schon in Tangermünde gesehen. Aha. Ich grüße bestätigend zurück. Ich bin wohl der Mann mit dem roten Kajak. Das geht in Ordnung.
Ich fahre gegen Wind und Ministrömung zurück und zweige nach links ab, wo es zur Spül-/Campinginsel geht.
Ein großzügiger flacher Schwimmsteg für Kanuten und Ruderer ist hier am hinteren Ende angelegt, wie man ihn sich schöner nicht wünschen kann. Direkt oben befinden sich 2 Wassersportvereine, die beide auch Übernachtungs- und Zeltmöglichkeiten auf dem Gelände für Kanuten und Tourenpaddler anbieten. Vorbildlich. Links befindet sich ein großer Wohnmobilplatz, wo man auch zelten könnte.
Überhaupt macht Havelberg mit vielen roten Backsteinhäusern sowie dem prägnanten Dombau einen sympathischen Eindruck. Ich darf mein Kajak kostenlos auf dem Gelände des Ruderclubs abstellen und mache mich auf nach Berlin, um den Wagen zu holen. An der Uferstrasse gegenüber der Touristeninformation befindet sich die Haltestelle für den stündlich verkehrenden Bus nach Glöwen, wo der Regionalzug nach Berlin hält.
Von Wannsee sind es mit dem Wagen nur etwa 110 Kilometer bis nach Havelberg. Die Fahrt über einsame Alleen, weite Felder und fast menschenleere Dörfer ergänzt das atmosphärische Bild der Havel-Tour tatsächlich noch einmal. Ein wenig elegisch und wie in einer anderen vergangenen Zeitzone ist es hier. Weit weg von der Hauptstadt auf jeden Fall – Mission accomplished.